Page 21 - SPP Abschlussbroschüre
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Es war das zentrale Ziel unserer Arbeit, die wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Texte des Korpus hinsichtlich der sprachlichen Repräsentation von Nichtwissen zu analysieren und daraus (zum Beispiel modal und temporal) differenzierte diskursrelevante Nichtwissens-Konzepte abzuleiten. Dadurch sollten Erkenntnisse darüber gewonnen werden, ob es ko(n)text- spezifische, textsortenspezifische, diskursspezifische und/oder akteursspezifische Muster der Benennung, Beschreibung und Bewertung von Nichtwissen gibt.Auf grammatisch-syntaktischer Ebene sind vor allem Tempus, Modus und Negation Indikatoren für Nichtwissen.Über qualitativ-hermeneutische Textanalysen ein sprachwissen- schaftliches Methodenset zu entwickeln, das in einem nächsten Schritt korpuslinguistisch-quantitative Zugänge zu größeren Textkorpora ermöglicht, war die zentrale Herausforderung des Projekts. Aus drei verschiedenen linguistischen Blickwinkeln (Textlinguistik, Stilistik und Diskurslinguistik) kamen wir im We- sentlichen zu folgenden Ergebnissen: Auf grammatisch-syn- taktischer Ebene sind vor allem Tempus, Modus und Nega- tion Indikatoren für Nichtwissen. Durch diese Mittel werden verschiedene temporale und modale Akzentuierungen von Nichtwissens-Konzepten transportiert (z. B. Noch-nicht-Wissen, Noch-nicht-genau-genug-Wissen, Niemals-wissen-Können, Niemals-genau-genug-wissen-Können, Nicht-wissen-Wollen). Auf grammatisch-lexikalischer Ebene werden diese Markierun- gen durch bestimmte Wortbildungsmuster (z. B. Bildungen mit un-, -los, -bar) ergänzt. Auf lexikalischer Ebene schließlich sind es vor allem Ausdrücke, die prototypisch auf Nichtwissen verwei- sen (z. B. Irrtum, Kontroverse), Ausdrücke, die kontextbedingt auf Nichtwissen hindeuten können (z. B. Desiderat, fehlende Daten) sowie rhetorische Figuren (z. B. Neuland betreten, Stiefkind der For- schung). Alle diesen sprachlichen Mittel werden je nach Akteuren und Textsorten unterschiedlich frequent genutzt, können aber nur unter ausdrücklicher Beachtung des jeweiligen Kontextes als sprachliche Nichtwissens-Indikatoren interpretiert werden.Gehen Wissenschaftlerinnen und Wissen- schaftler sprachlich und argumentativ anders mit Nichtwissen um als Journalistinnen und Journalisten?Ja, der sprachlich-kommunikative Umgang mit Nichtwissen unterscheidet sich je nach Autor – und übrigens auch je nach Textart. Forschungen verschie- dener Disziplinen haben gezeigt, dass Nichtwissen wissenschaftsintern aus anderen Gründen thematisiert wird als beispielsweise in journalistischen Tex- ten. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollen, wenn sie Nichtwissen explizit ansprechen, erstens auf Forschungslücken hinweisen und damit ihre Forschungsarbeit begründen und rechtfertigen. Sie wollen zweitens durch die Vorwegnahme von Unsicherheiten ihre Ergebnisse absichern. Und sie nutzen Hinweise auf Nichtwissen drittens zur Demonstration von Kompetenz, und zwar besonders dann, wenn sie es anderen Wissenschaftlerinnen und Wissen- schaftlern oder Laien zuschreiben. Grundsätzlich gehört Nichtwissen zur Wis- senschaft, es ist der Motor und die Motivation für Forschung und wird im Sinne von Forschungslücken innerhalb der Wissenschaft auch in der Regel positiv be- wertet. Diese Arten Nichtwissen zu thematisieren, werden von Journalistinnen und Journalisten erstaunlicherweise selten aufgegriffen – wo im wissenschaft- lichen Text Ungewissheit und Nichtwissen deutlich angesprochen werden, tut der journalistische Text oft so, als wäre alles klar und eindeutig. Wenn Journa- listinnen und Journalisten Nichtwissen thematisieren, dann aus ganz anderen Gründen und mit anderen Zielen: Mit der Feststellung von Nichtwissen im Zusammenhang mit Berichten über Forschung und Wissenschaft wollen Jour- nalisten Neugier wecken, erschrecken oder dramatisieren, sollen Kontroversen angeheizt, soll mobilisiert oder auch entlarvt werden. Nichtwissen ist hier nichts Selbstverständliches, sondern eher etwas, vor dem gewarnt wird, das Zweifel und Unsicherheit über die Zuverlässigkeit von Experten schürt.Nichtwissen nimmt in verschiedenen Texten, Medien und Diskursen dem- nach unterschiedliche rhetorische und argumentative Funktionen ein. Dies hat auch Folgen für die sprachliche Ebene, d.h. dafür, wie Nichtwissen sprachlich benannt, beschrieben und bewertet wird. Grundsätzlich kann Nichtwissen mit Hilfe von modalen, temporalen und negierenden Ausdrücken sprachlich ver- mittelt werden: Eine Formulierung wie kann noch nicht mit Sicherheit gesagt werden zeigt mehrere Markierungen auf der modalen Ebene (kann, mit Sicher- heit), der temporalen Ebene (noch) und der Negationsebene (nicht). Hinzu kommen zahlreiche Wörter, die Nichtwissen und Ungewissheit direkt bezeich- nen, die „Nichtwissen“ also als Teil ihrer Bedeutung tragen: z. B. Ungewissheit, Irrtum, Zweifel, Unsicherheit, Forschungsdesiderat, Frage, Kontroverse. Man sieht aber schon an diesen wenigen Beispielen, dass es bei solchen Ausdrücken um sehr unterschiedliche Typen von Nichtwissen geht: Ein Forschungsdesiderat gilt generell in einer Gemeinschaft oder einer Gesellschaft und bezieht sich auf ein fehlendes Wissen; zweifeln tut dagegen immer das Individuum an einem unsicheren oder vermeintlichen Wissen. Ein Irrtum setzt geglaubtes Wissen vo- raus, eine Kontroverse basiert dagegen auf widersprüchlichen Überzeugungen, was als Wissen und Wahrheit zu gelten hat. Und dann gibt es noch Ausdrücke, die nicht von sich aus, aufgrund ihrer Bedeutung, auf Nichtwissen verweisen, sondern erst im Kontext, in dem sie stehen. Hierzu zählen Mehrwortausdrücke wie fehlende Daten oder rhetorische Figuren wie Stiefkind der Forschung oder Neuland betreten. Prinzipiell kann aber erst und nur im Kontext entschieden werden, welcher Ausdruck sich aktuell tatsächlich auf eine Art von Nichtwissen bezieht.Blickt man auf die Verteilung, wer zu welchem Zweck welche Mittel nutzt, so finden sich die genannten grammatischen Mittel durchgehend in allen Texten, in denen Nichtwissen thematisiert wird. Auf Wortschatzebene arbeiten jour- nalistische Texte aber in der Regel sehr viel stärker mit Metaphern, Personifi- kationen, Anspielungen und (nicht selten negativ) bewertenden Ausdrücken, während in wissenschaftlichen Texten Nichtwissen entweder explizit benannt und positiv herausgestellt oder als Noch-nicht-Wissen oder Nicht-genug-Wis- sen ausdrücklich wissenschaftlichem Wissen und wissenschaftlicher Expertise gegenüber gestellt wird.21