Page 38 - SPP Abschlussbroschüre
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Epistemische Verarbeitung multipler wissenschaftlicher Texte im InternetKurzbeschreibungWenn sich Lernende im Internet über ein wissenschaftliches The- ma informieren, lesen sie in der Regel mehrere Texte, die ein und denselben Inhaltsbereich aus unterschiedlichen und zum Teil wi- dersprüchlichen Perspektiven darstellen. Unser Projekt beschäf- tigt sich mit der Frage, wie widersprüchliche Texte zu einer Wis- senschaftsdebatte verstanden werden und wie die resultierende Wissensrepräsentation strukturiert ist. Dabei wurde die Annah- me zu Grunde gelegt, dass Lernende ihre Überzeugungen und ihr Vorwissen routiniert nutzen, um die Plausibilität neuer Infor- mationen einzuschätzen (epistemische Validierung). Im Rahmen des Projektes wurden bisher zwölf empirische Studien durchge- führt, in denen die Randbedingungen und Auswirkungen einer epistemischen Validierung in der Verarbeitung multiple Texte untersucht wurden. Dabei zeigte sich zu den Lernergebnissen auf Ebene des Textverständnisses (Situationsmodell), dass Ler- nenden oft ein stärkeres Situationsmodell für überzeugungskon- sistente Texte bilden als für überzeugungsinkonsistente Texte (Text-Überzeugungskonsistenzeffekt). Zudem fanden wir auf lo- kaler Ebene von Einzelinformationen den Plausibilitätseffekt als Pendant zum Text-Überzeugungseffekt, d.h. als plausibel einge- schätzte Informationen wurden stärker in das Situationsmodell aufgenommen als Informationen, die von Lernenden als unplau- sibel eingeschätzt wurden. Dieses Befundmuster ist im Einklang mit der Annahme, dass epistemische Validierungsprozesse als Teil einer oberflächlichen epistemischen Verarbeitung zu einer verzerrten Informationsverarbeitung führen. Genauer scheinen Lernende ihre Überzeugungen unter einer oberflächlichen Ver- arbeitung als epistemischen Hintergrund für die Validierung neuer Information zu nutzen, wodurch per default eine Zurück- weisung überzeugungsinkonsistenter Informationen erfolgt. Dass Lernende ohne spezifisches Verarbeitungsziel eine Präfe- renz für überzeugungskonsistente Informationen haben, zeigte sich auch in Prozessdaten. So fanden wir u.a. längere Lesezeiten für überzeugungskonsistente Informationen unter einem rezep- tiven Verarbeitungsziel.Auch wenn eine oberflächliche epistemische Verarbeitung ressourcenschonend ist, so verhindert sie durch die fehlende Aktualisierung der mentalen Repräsentation den Aufbau eines Gesamtverständnisses des kontrovers diskutierten wissenschaft- lichen Sachverhaltes, indem relevanten (Gegen-)Argumenten beider Standpunkte repräsentiert sind. Für eine Förderung ei- ner balancierteren Verarbeitung multipler Texte untersuchten wir in unseren Experimenten unterschiedliche situative Gestal- tungsmittel (wie z. B. eine alternierende Textpräsentation) und lernerseitige Faktoren (wie z. B. das Verarbeitungsziel oder die Vorwissensgüte), die eine elaborative (wissensgestützte und ressourcenintensive) epistemische Verarbeitung begünstigen sollten. Hierbei zeigte sich u.a., dass der Effekt der Text-Über- zeugungskonsistenz nicht mehr auftrat, wenn die Texte unter- schiedlicher Positionen abwechselnd präsentiert wurden. Eine Blickbewegungsuntersuchung lässt zudem vermuten, dass die- ser Effekte darauf basiert, dass eine abwechselnde Textpräsen- tation strategisches Verarbeitungsverhalten (mehr und längere Lookbacks) für überzeugungsinkonsistente Argumente fördert. In ähnlicher Weise wurde der Plausibilitätseffekt durch ein epi- stemisches Verarbeitungsziel, das unserem Modell zufolge eine elaborative epistemische Verarbeitung stimulieren sollte, abge- schwächt. Auch hier ließen sich die Befunde durch Prozessindi- katoren untermauern. Denn eine Untersuchung mit Protokollen des lauten Denkens legte nahe, dass ein epistemisches Verarbei- tungsziel eine ausgeglichene Ressourcenverteilung auf überzeu- gungskonsistente und –inkonsistente Texte förderte, die wiede- rum positiv mit der Anzahl an Indikatoren einer strategischenLaufzeit:2009-2016AntragstellerInnenProf. Dr. Tobias Richter, tobias.richter@uni-kassel.deUniversitäten & InstituteUniversität Kassel, Institut für PsychologieMitarbeiterInnenDr. Johanna Maier Dr. Bettina MüllerIm Projekt entstandene/entstehende DissertationenMaier, J. (2013). Learning Scientific Information from Multiple Texts: The Role of Epistemic Validation. Universität Kassel.Projektbezogene Publikationen (Auswahl)Maier, J. & Richter, T. (2014). Fostering multiple text comprehension: How meta- cognitive strategies and motivation moderate the text-belief consistency effect. Metacognition & Learning, 9, 45-71.Maier, J. & Richter, T. (2014). Verstehen multipler Texte zu kontroversen wissen- schaftlichen Themen: Die Rolle der epistemischen Validierung. Unterrichtswissen- schaft, 42(1), 24-38.Maier, J. & Richter, T. (2013). Text-belief consistency effects in the comprehension of multiple texts with conflicting information. Cognition and Instruction, 31, 151-175.Maier, J. & Richter, T. (2013). How nonexperts understand conflicting information on social science issues: The role of perceived plausibility and reading goals. Journal of Media Psychology, 25, 14-26.Richter, T. (2015). Comprehension and validation of text information: Two sides of the same coin. Discourse Processes. 52:5-6, 337-355, doi: 10.1080/0163853X.2015.102566538